Ulenspiegel – oder die Funktion des Narren 

 

Guten Tag,

zu Hause hatten wir eine sehr eindrucksvolle Ausgabe des „Ulenspiegel und Lamme Goedzak“ von Charles de Coster, eines der Bücher, die mich als Kind am meisten faszinierten. Diese Ausgabe – (gerade weil?) alles andere als kindgerecht und harmlos, vermittelte mir Wesentliches über das Leben.

Der Autor versetzt die archetypische Gestalt des Ulenspiegels in die Zeit der niederländischen Befreiungskriege. Politische Unterdrückung und die Folter der religiösen Inquisition bestimmen das Leben. Ulenspiegels Vater wird als Ketzer hingerichtet, die Mutter seiner Geliebten Nele verfällt, als Hexe verdächtigt, unter der Folter dem Wahnsinn.

In diesen gefährlichen und auswegslos erscheinenden Situationen spielt Ulenspiegel den Narren, entlarvt Gier, Bosheit, Neid, Opportunismus. Nie verliert er seine Zuversicht, seinen Mut und Witz, seine absolute Freiheitsliebe als unverbrüchliches Menschenrecht. Die Liebe zur klugen Nele, die ihn einmal sogar vor dem Galgen rettet und die Freundschaft zum eher phlegmatischen Lamme Goedzak, der für sein Leben gerne isst, geben ihm den nötigen Rückhalt.

Die eindrücklichen Holzschnitte von Frans Masareel erweckten, gerade durch ihre reduzierte Formensprache, alles Beschriebene zum Leben, machten die Landschaft, die Geschichte, die Menschen spürbar und nachvollziehbar. Vor allem aber beeindruckte mich die Rolle des Narren, der unabhängig von allen äusseren Repressionen dem eigenen Gewissen verpflichtet bleibt, den Menschen den Spiegel vorhält, sie beim Wort nimmt und damit die Absurdität jeglicher Tyrannei entlarvt. Nicht umsonst hielt man sich an mittelalterlichen Fürstenhöfen einen Narren, der all das sagen durfte, wofür andere schnell ihren Kopf verloren hätten.

Auch die „närrischen Tage“ hatten (haben?) neben der mystischen Vertreibung des Winters eine Entlastungsfunktion, in der für kurze Zeit alle Regeln ausser Kraft gesetzt scheinen (systemtheoretisch interpretiert, wird das Bestehende damit „geordnet“ verlassen und gefestigt).

Manchmal erfüllt auch die Kunst diese Rolle des Hofnarren – in den bildenden wie in den darstellenden Formen, wenn wir bereit sind, andere Sichtweisen aufzunehmen, die vielleicht sogar dauerhaft unser Weltbild verändern können.

Wie auch immer Sie diese „närrischen Tage“ begehen,
eine gute Zeit für Sie,
wünscht Ihnen von Herzen Ihre Eva Mueller

 

 

Ulenspiegel bekommt von Vater Claes und Mutter Soetkin jeweils die grösste Liebe, so wie sie die Beiden, jede/r auf seine / ihre  Weise verstehen. „Sohn mit der Glückshaube“ sprach er (der Vater), hier ist die gnädige Frau Sonne. Sie kommt das flandrische Land zu grüßen. Schau sie an, wenn du’s kannst, und später, wenn du in einen Zweifel verstrickt bist und nicht weisst, was du tun sollst, um recht zu handeln, frage sie um Rat. Sie ist hell und warm. Sei aufrichtig, wie sie hell ist, und so gut, wie sie warm ist.“

„Cleas mein Mann“, sagte Soetkin, „du predigst einem Tauben. Komm, trink mein Sohn.“ Und die Mutter bot dem Neugeborenen ihre schönen natürlichen Trinkflaschen.

Das schöne Buch „Ulenspiegel und Lamme Goedzak“ von Charles de Coster, Illustrationen von Frans Masareel ist zuletzt 1984 als Winkler Dünndruckausgabe erschienen und nur noch antiquarisch zu erhalten.

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