IST DER SPUK VOR­BEI?

Guten Tag,

jetzt sind sie wie­der ver­schwun­den. Auf­ge­räumt die Mas­ken und Klei­der. Wenn Sie sich ir­gend­wo in der Al­pen­re­gi­on auf­ge­hal­ten haben, sind sie Ihnen be­stimmt be­geg­net: Die Perch­ten.

Es gibt so­ge­nann­te schö­ne und gute, die „Tres­ter“, und die wil­den, bösen „Schiach­perch­ten“ (bay­risch/ös­ter­rei­chisch schiach = häss­lich). Für die ma­gi­sche Zeit zwi­schen dem 24. De­zem­ber Weih­nach­ten und dem 6. Ja­nu­ar Hei­lig Drei König, mit ihren so­ge­nann­ten „Rauh­näch­ten“ für die über­zäh­li­gen Tagen des Mond­ka­len­ders, gibt es un­zäh­li­ge My­then und Ri­tua­le.

Wild ver­klei­det und mas­kiert trei­ben schrä­ge Ge­stal­ten den Win­ter aus. Den wir gar nicht mehr er­le­ben. Weil ihm mit der Kli­ma­er­hit­zung in un­se­ren Brei­ten längst der Gar­aus droht.

Kunst­vol­le Mas­ken und Kos­tü­me haben eine lange kul­ti­sche und künst­le­ri­sche Tra­di­ti­on. Es gibt sie in allen Län­dern und ge­sell­schaft­li­chen Grup­pie­run­gen. Als Dar­stel­lung der je­wei­li­gen Gött/innen, ri­tu­el­le Rea­li­sie­rung, hoch äs­the­ti­sche Form. Sicht­bar und trag­bar nur für eine be­stimm­te, aus­er­wähl­te, dafür aus­ge­bil­de­te Elite. Oder wie heute je­der­mann zu­gäng­lich.  Über die Jahr­hun­der­te hin­weg nicht sel­ten ohne Bezug zur ur­sprüng­li­chen Be­deu­tung als Kunst­ob­jek­te hoch ge­han­delt, ge­raubt oder ver­kauft.

Über die Rück­füh­rung solch wert­vol­ler Ex­po­na­te in ihre Ur­sprungs­län­der wird ge­ra­de in Bezug zum Hum­boldt Forum in Ber­lin, das die­ses Jahr er­öff­net wer­den soll, hef­tig dis­ku­tiert. Die Ar­gu­men­te er­in­nern an alten ko­lo­nia­len Spuk. Höchst am­bi­va­lent zwi­schen ar­chai­scher Ver­klä­rung und Ras­sis­mus ist die Hal­tung nicht nur, wenn es um kul­ti­sche Ge­bräu­che und Ge­gen­stän­de an­de­rer Län­der geht.

Wie zeit­ge­mäss er­le­ben wir die Perch­ten in un­se­rer Re­gi­on? Wel­cher Macht- und Ge­walt­miss­brauch konn­te sich über die Jahre nicht auch hin­ter den Ver­klei­dun­gen ver­ber­gen? Wel­chen Sinn macht die „Wilde Jagd“ in der Fuss­gän­ger­zo­ne Mün­chens, aus­ser einem Tou­ris­ten­spek­ta­kel?

Künst­le­risch und in­halt­lich be­son­ders tref­fend for­mu­lier­te der US-Künst­ler Jamie Ca­me­ron diese Am­bi­va­lenz auf der letz­ten Bi­en­na­le in Ve­ne­dig. Seine wil­den Ge­stal­ten sind Meis­ter­wer­ke – und wich­ti­ger An­stoss, un­se­re ei­ge­nen Tra­di­tio­nen und Ri­tua­le unter die Lupe zu neh­men.

Mit mild-win­ter­li­chen Grüs­sen
Ihre Eva Mu­el­ler

eva mu­el­lers vi­sio­na­ry sun­day post

Abb: „Smi­ling Di­sea­se“ Jamie Ca­me­ron, Aus­schnitt aus der gleich­na­mi­gen In­stal­la­ti­on
in den Ar­se­na­le Hal­len auf der Bi­en­na­le in Ve­ne­dig 2019

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