DER HASE MIT DEN BERNSTEINAUGEN*
Guten Tag,
Familiengeschichten ermöglichen eindrückliche Zeitreisen, wenn man verstehen will, wie sich gesellschaftliche und soziale Entwicklungen vollziehen. Edmund de Waal erzählt seine als Nachfahre der bedeutenden Familiendynastie Ephrussi.
Ursprünglich im russischen Odessa beheimatet, erfolgreich im Getreidehandel, zieht ein Teil der Familie nach Paris. Charles Ephrussi wird dort einer der bekanntesten Kunstkritiker und Kunstförderer Ende des 19. Jahrhunderts. Als andere noch von Kleckserei sprechen, fördert und sammelt er die neuen Werke der massgebenden Impressionisten wie Claude Monet, Édouard Manet, Berthe Morison, Alfred Sisley. Er ist es auch, der eine bedeutende Netsuke Sammlung mit diesen detailversessenen kleinen Tier- und Menschenfiguren aufbaut, in der sich auch ein Hase mit Bernsteinaugen befindet.
Zur Wiener Gründergeneration, die mit ihren prächtigen Stadtpalais an der Ringstrasse dazu beitrug, dass sich diese Stadt zur bedeutenden Metropole entwickelte, gehörte der Familienzweig des Bankhauses Ephrussi & Co. Noch 1872 wurde Ignaz von Ephrussi in den Adelsstand als Ritter erhoben. Seine Nachkommen werden schon bald zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Juden verfolgt und fliehen in alle Welt, nach Frankreich, Spanien, Mexiko, Grossbritannien, den USA und Japan.
Edmund de Waal, Professor, Autor und Keramikkünstler erzählt in seinem Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wie er die kostbare Sammlung der 264 Netsuke von seinem Grossonkel in Tokio erhält und wie sie 150 Jahre Familiengeschichte überlebten – was tragischerweise nicht allen Familienmitgliedern im Nationalsozialismus gelang.
An diesem Montag, 27. Januar 2020, dem internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, jährt sich die Befreiung des KZ Ausschwitz zum 75 mal. Viele wichtige Ausstellungen und Veranstaltungen in Museen und Dokumentationszentren erzählen vom nach wie vor Unbegreiflichen. Wozu Menschen fähig sind. Und was sie alles „überleben“ können. Wie der berühmte Fotograf Martin Schöller, der mit seinen Portraits von Holocaust Überlebenden diesem Aspekt in seiner neuen Ausstellung auf wunderbare Weise ein Gesicht gibt.
„Wer sich für den Hass entscheidet, überlebt nicht lange“ ist sein Resümee. Keine Feindbilder zu erlauben, keiner Ausgrenzung zuzusehen, keine Sündenböcke zu schaffen, Neid und Projektionen eigener Probleme auf andere, zu hinterfragen ist wohl das, was uns heute zu tun bleibt.
Mit bewegten Grüssen
Ihre Eva Mueller
*Danke Sissi Banos, für dieses inspirierende Buch!
Die Ausstellung „Survivors. Faces of Life after the Holocaust“ mit Fotografien von Martin Schöller ist bis 26.4.2020 im Museum UNESCO Welterbe Zollverein in Essen zu sehen.
Das jüdische Museum Dorotheergasse in Wien nimmt den Hasen mit den Bernsteinaugen – und viele weitere bedeutende Kunstwerke der engagierten Kunstsammlerfamilie – zum Anlass für seine Ausstellung „Die Ephrussis. Eine Zeitreise“ den Werdegang der Töchter und Söhne in aller Welt Länder nachzuzeichnen. Hier sind bis 14. April auch 157 Netsukes aus der Sammlung von Edmund de Waal zu sehen.