Was sie un­be­dingt wis­sen soll­ten

Heute muss ich Ihnen etwas län­ger schrei­ben als sonst. Weil es mir wich­tig ist, dass Sie Hin­ter­grund­in­fos er­fah­ren. Wahr­schein­lich haben Sie schon ei­ni­ges ge­hört, ge­se­hen oder ge­le­sen über die do­cu­men­ta 15 in Kas­sel.

Wie alles be­gann
Die do­cu­men­ta ist eine der be­deu­tends­ten Welt­kunst­aus­stel­lun­gen. Alle 5 Jahre setzt sie ein immer sehr um­strit­te­nes State­ment, eben als Vor­rei­te­rin für die zu­künf­ti­ge Avant­gar­de. Nach­dem seit vie­len Jah­ren kri­ti­siert wird, wie ein­sei­tig Eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka be­stim­men, was sich Kunst nen­nen darf, war es nur fol­ge­rich­tig, dass die Aus­wahl­kom­mis­si­on das in­do­ne­si­sche Kunst-Kol­lek­tiv ru­an­gru­pa aus­wähl­te, die do­cu­men­ta 15 zu ku­ra­tie­ren.

Ra­di­kal an­ders – das är­gert viele
Als Kol­lek­tiv lud ru­an­gru­pa wei­te­re Kol­lek­ti­ve ein. Nach dem in­do­ne­si­schen „lum­bung“ Prin­zip, der Tei­lung von Über­schüs­sen in der Reiss­cheu­ne, wurde alles ge­mein­schaft­lich ent­schie­den. Die Orte. Das Bud­get. Die Künst­ler-Kol­lek­ti­ve konn­ten wei­te­re Teil­neh­mer:innen ein­la­den. Und es funk­tio­nier­te vor­bild­lich! Freund­schaft­lich. Ko­ope­ra­tiv. Al­ler­dings gehen damit die Ga­le­ri­en leer aus, die keine ihrer Künst­ler:innen lan­cie­ren konn­ten (sonst ein be­deu­ten­der wirt­schaft­li­cher Fak­tor). Es gibt keine Stars auf die­ser Aus­stel­lung.

Der Skan­dal kommt ins Rol­len
Der Blog­ger Jonas Dörge be­treibt mit sei­nen 5 Mit­strei­tern ein so­ge­nann­tes „Kas­se­ler Bünd­nis gegen An­ti­se­mi­tis­mus“. Noch bevor ir­gend­ein Kunst­werk auf der do­cu­men­ta zu sehen war, warf er der in­do­ne­si­schen Grup­pe ru­an­gru­pa Ju­den­feind­lich­keit vor. Das Bünd­nis ist bei His­to­ri­kern höchst um­strit­ten. Ul­rich Schnei­der von der Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Na­zi­re­gimes meint z.B. „Dem Bünd­nis geht es darum, Men­schen zu de­nun­zie­ren, die die Be­sat­zungs­po­li­tik Is­ra­els kri­tisch sehen. Der pau­scha­le Vor­wurf des An­ti­se­mi­tis­mus wird bei ihnen be­wusst als Tot­schlag­ar­gu­ment ein­ge­setzt“. Sich selbst nennt Dörge „Geg­ner der is­la­mi­schen Re­li­gi­on, aber nicht im ras­sis­ti­schen Sinn“ (HNA 23.1.22)

Die „Zeit“ über­nahm die­sen Blog un­hin­ter­fragt. Und schon war das Ur­teil in der Welt. Skan­da­le sind immer me­di­en­wirk­sam. Viele spran­gen auf. Die Ge­schäfts­füh­re­rin der do­cu­men­ta, Sa­bi­ne Schor­mann, ver­pass­te es so­fort für Klä­rung zu sor­gen. Ob­wohl auch die Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Clau­dia Roth dies ein­for­der­te. Weder sorg­te Schor­mann für eine of­fe­ne und klare Kom­mu­ni­ka­ti­on, noch für eine deut­li­che Po­si­ti­on mit ru­an­gru­pa.

Und dann pas­sier­te es
Es gab An­schlä­ge auf das Fri­de­ri­cia­num und einen wei­te­ren Aus­stel­lungs­ort mit Schmie­re­rei­en, die Ju­den­feind­lich­keit un­ter­stell­ten.
Bei der Er­öff­nung such­ten na­tür­lich alle nach an­ti­se­mi­ti­schen Wer­ken. Und fan­den nichts. Aus­ser den um­strit­te­nen Bild­ti­teln zwei­er Ge­mäl­de eines pa­läs­ti­nen­si­schen Künst­lers, die sich „Gaza Guer­ni­ca“ nen­nen. Also einen Zu­sam­men­hang her­stel­len zwi­schen den Bom­bar­die­run­gen Is­ra­els auf den Ga­za­strei­fen und der schreck­li­chen Zer­stö­rung der spa­ni­schen Stadt, durch den fa­schis­ti­schen Pakt Deutsch­lands und Ita­li­ens 1937.

Nach­dem alle Er­öff­nungs­gäs­te weg waren, tauch­te auf dem Fried­richs­platz ein 8×12 m gros­ses Ban­ner „Peop­les Jus­ti­ce“ auf. Das vor 20 Jah­ren in Aus­tra­li­en her­ge­stellt, den Kampf gegen die Dik­ta­tur Su­har­tos zeigt und vorab nicht fer­tig re­stau­riert war. Ein Welt­ge­richts-Wim­mel­bild, bei dem erst nach ei­ni­ger Zeit jü­disch aus­se­hen­de Män­ner mit einem SS Hut und Schwei­ne mit Moss­ad­auf­schrift ent­deckt wur­den. Das Bild wurde so­fort ver­hängt und schliess­lich ab­ge­nom­men. So­wohl die Künst­ler Ta­ring Padi als auch ru­an­gru­pa dis­tan­zier­ten sich vom Werk und ent­schul­dig­ten sich. Das war un­be­dingt nötig.

Wie dif­fe­ren­zier­te Kom­mu­ni­ka­ti­on über Kom­ple­xi­tät wirk­lich geht, zeig­te Meron Men­del
So hätte man sich die Kom­mu­ni­ka­ti­on der do­cu­men­ta ei­gent­lich ge­wünscht. Wie der Di­rek­tor der Bil­dungs­stät­te Anne Frank, Prof. Meron Men­del Stel­lung nahm. Im Vor­feld un­ter­stütz­te er die Aus­stel­lung. Er­klär­te, dass man in Deutsch­land Juden na­tür­lich in ers­ter Linie als Opfer an­er­kennt, in In­do­ne­si­en aber auch als Täter in ihrer Ver­ant­wor­tung der po­li­ti­schen Si­tua­ti­on, wenn sie in Is­ra­el leben. Zwi­schen der Kri­tik am Staat Is­ra­el und Ju­den­feind­lich­keit liegt der Un­ter­schied. Das Ban­ner nutz­te an­ti­se­mi­ti­sche, jü­di­sche Phy­sio­gno­mie-Ste­reo­ty­pe. Eine klare Sache, die zu ver­ur­tei­len ist.

Und die­sen Mann ver­är­ger­te die Ge­schäfts­füh­re­rin, die ihn erst als Be­ra­ter dazu holte – und dann nichts mehr von sich hören liess! Jetzt gibt es einen neuen (bei der do­cu­men­ta 9 be­währ­ten) Ge­schäfts­füh­rer Alex­an­der Fah­ren­holtz.

Den Schmerz der an­de­ren be­grei­fen (nach einem Buch von Char­lot­te Wie­de­mann)
Ei­gent­lich könn­ten wir diese Vor­gän­ge nut­zen, um uns bes­ser zu ver­ste­hen. Sicht­wei­sen aus­zu­tau­schen. Das, was Kunst so wun­der­bar an­re­gen kann. Wenn wir nicht nur stur un­se­re ei­ge­ne Mei­nung gel­ten las­sen. Und vor allem den Schmerz der an­de­ren be­grei­fen. Auf­ein­an­der zu­ge­hen. Nicht mit zwei­er­lei Mass mes­sen. Über die 2700 An­schlä­ge (pro Jahr!) auf jü­di­sche Men­schen oder Ein­rich­tun­gen, die es bei uns in Deutsch­land gibt, in­klu­si­ve der schreck­li­chen Taten in Hanau, wird we­ni­ger dis­ku­tiert und pu­bli­ziert als über drei Kunst­wer­ke in Kas­sel. (sehr hö­rens­wert: 19.7.22 BR2 – Nacht­stu­dio mit Tho­mas Kret­sch­mar, Char­lot­te Wie­de­mann, Dr. Chris­ti­ne Morin, Meron Men­del, Lud­wig Spän­le). Die An­grif­fe auf trans­se­xu­el­le do­cu­men­ta-Teil­neh­mer:innen vom Par­ty-Of­fice waren ir­ri­tie­ren­der Weise nur in der hes­si­schen Pres­se. („Wir sind in Kas­sel in Ge­fahr“ HNA 10.7.22)

1450 Künst­ler:innen auf der do­cu­men­ta 15 haben eine zau­ber­haf­te At­mo­sphä­re ge­schaf­fen
Noch nie wur­den die Kas­s­ler Bür­ger:innen so ein­ge­bun­den in die Aus­stel­lung. Mit Schul­klas­sen ge­ar­bei­tet. Be­nach­tei­lig­te Stadt­ge­bie­te mit ein­be­zo­gen. Jeder Aus­stel­lungs­ort bie­tet Plät­ze zum Aus­tausch und eine ori­gi­nel­le Gas­tro­no­mie. So wird Kunst für alle zu­gäng­lich. Zeigt, man ist will­kom­men.

Na­tür­lich wi­der­spricht ei­ni­ges mei­nem Kunst­ver­ständ­nis. Aber dazu lädt man Men­schen aus an­de­ren Kul­tu­ren ein. Und es gibt gross­ar­ti­ge Werke im Fri­de­ri­cia­num, in der do­cu­men­ta Halle, in der Grimm-Welt, im Ot­to­ne­um. Filme, die uns ganz nah in an­de­re Län­der und Le­bens­rea­li­tä­ten füh­ren. Er­kennt­nis­reich un­se­ren Blick wei­ten.

Wenn Sie Zeit haben, be­su­chen Sie die do­cu­men­ta 15. Blei­ben wir im Ge­spräch. Es lohnt sich!
Herz­lich Ihre Eva Mu­el­ler

Abb.: Der wun­der­ba­re Er­zäh­ler Agus Nur Amal PMTOH aus Su­ma­tra, In­do­ne­si­en, hat neben sei­nem ana­lo­gen Fern­seh­pro­gramm zu ak­tu­el­len The­men der Men­schen auch mit
Kas­s­ler Kin­dern Skulp­tu­ren aus All­tags­ge­gen­stän­den ge­baut | Foto Chris Rap­pel


Abb: Re­geln der Kol­lek­ti­ve, Fah­nen der Kunst­hoch­schu­le Weis­sen­see im Fri­de­ri­cia­num
Foto: Antje Jung­hans

Kas­sel do­cu­men­ta 15

Abb.: Mal­gorz­a­ta Mir­ga-Tas aus Polen „Out of Egypt“ zur Ver­trei­bung und den Anti Roma Ste­reo­ty­pen nach Ra­die­run­gen von Jaques Callo 17. Jh. „Das Leben der Ägyp­ter“ | Foto: Chris Rap­pel

Kas­sel do­cu­men­ta 15

eva mu­el­lers vi­sio­na­ry sun­day post lie­fert zur do­cu­men­ta 15 hin­ter­grund­in­fo­sAbb.: Der wun­der­ba­re Er­zäh­ler Agus Nur Amal PMTOH aus Su­ma­tra, In­do­ne­si­en, hat neben sei­nem ana­lo­gen Fern­seh­pro­gramm zu ak­tu­el­len The­men der Men­schen auch mit
Kas­s­ler Kin­dern Skulp­tu­ren aus All­tags­ge­gen­stän­den ge­baut | Foto Chris Rap­pel

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